Topologisches Tabu

I - topologisches tabu

das stillgelegte stellwerk erkner, ein gebäude aus denen fahrtzeichen und weichenstellungen mittels elektromechanisch gesteuerter seilzüge ehemals in das streckennetz eingespeist wurden, liegt einklammert zwischen dem fernverkehrsgleisen richtung frankfurt (oder) und dem s-bahnhof erkner. eine schlichte uhr (die elektronisch mit der »mutteruhr« der gesamten bahnanlage synchronisiert ist) und ein schukarton großer computer an der wand sind die einzigen noch in funktion stehenden elemente. die große seilzugkonsole, die den raum ehemals prägte ist demontiert. alte büroeinrichtungselemente – ein stuhl, ein schreibtisch, ein schubladenschrank. altes geschirr, ein bundesliga poster, leere holzspinte im nebenraum. vor dem fenster wild wucherndes grün, zirpende grillen. im keller winterdienst equipment: schüppe, mistgabel, streugut und obsolete metallsignale. die tatsache, dass dieser außer dienst gestellte, nicht mehr benötigte baukörper des stellwerks an diesem ort bestehen geblieben ist, deutet auf eine metaphorische spannung der mechanisierten technologie der bahn hin, die nachwievor spürbar ist. von den durchmeßungen des raumes durch die eisenbahn, die die eroberung des amerikanischen mittleren westen von chicago aus erwirkte, strahlt ein doppelbild aus - einerseits die utopische humanisierung, die einbindung entlegener regionen, die mobilisierung der landwirtschaft, die entwicklung eines klassenlosen reisekomforts, andererseits die durchschneidung der landschaft, die zwangszivilisierung, gleichschaltung und spekulativen beschleunigungen (eines mobilisierten warenmarktes). bahnanlagen schneiden durch städte und landschaften, wie technische ströme. besteigt man das innere des fahrzeugs bewegt man sich in einer fantastischen geschwindigkeit durch die orte hindurch, die ohne, dass man in dem fahrzeug wäre, ein topologisches tabu darstellen: »betreten der gleisanlage verboten.« das schild des durchgestrichenen pyktogram-männchens ist richtungsweisend. wie die gefahr eines reißenden stromes, ist der elektrische strom, der um die gleise verlegt ist, sowie die bedrohung der gewaltigen, schwer abbremsbaren masse der züge, eine gefahr, die aus dem raum, der von der bahn eingenommen wird, einen zugleich unbetretbaren und rein transitorischen macht. ähnlich wie am flußufer eines reißenden stroms, ist der mensch auf das ufer der bahnsteigkannte oder das bootähnliche gefährt des zuges verwiesen - ein schwimmen in den gleisen gibt es nicht. parallel und oktogonal gegen die natürlichen ströme gewendet findet sich »hans der fischer aus arckenow« (*1) an den rand dieses künstlichen ufers verdrängt. ernst bloch teilt eine legende der erfindung der ersten lokomotive, die unkontrolliert losschießt und vor den augen einiger passanten explodiert (ein beistehender pastor wird von dem nie zuvorgesehenem schrecken irre). die quintessenz dieser anekdote ist der entschluss das kesselgefährt auf eine starre schiene zu zwingen. (*2 ernst bloch, die erste lokomotive in: spuren) gerade dieses netz aus schienen aber bildet die grundlage für ein rein technisches territorium. die welt gliedert sich durch die installation einer struktur des sicherheitsgefüges in begehbare und unbegehbare welt. (eine einheit bildet dabei die entstehung der transibirischen und der amerikanischen eisenbahn mit den beginn der abenteuerreisen, expeditionen. berge zu besteigen, da hin kommen, wo noch nie ein mensch gewesen ist, scheint wie eine dialektische antwort bezogen auf diese entkopplung eines raumes, der nur für die technik bestimmt ist.) die lebensrealität der mechanisierung spaltet den lebensbereich in das normale betriebsfeld, in dem die benutzung der einrichtungen in kontrollierten, vorgesehenem maße erfolgt und der dahinter gelegenen infrakstrukturellen technischen grundlage auf dessen basis die benutzung geschieht – aus dem tabu das letztere erzeugt, entsteht die phantasmagorische fluchtnotwendigkeit, die das utopische potenzial der moderne für immer in engster verbindung mit seiner erfahrung des ausschlusses, der gefahr und des schreckens und dem daraus resultierenden bedürfniss nach sicherheit und vorraussehbarkeit bringt.

*1 »Mittwochs post Convers, Pauli hat Hans der Fischer im Arckenow taufen lassen Und ist genant Maria.« 1579, Rüdersdorfer Kirchenbuch

*2 Ernst Bloch – Die erste Lokomotive (Spuren, Suhrkamp S.160)
Gar über Stephensons Debut läuft folgende wilde Legende. Soeben hatte er den ersten fahrenden Kessel aus dem Schuppen gezogen. Die Räder rührten sich und der Erfinder folgte seinem Geschöpf die abendliche Straße. Aber schon nach wenigen Stößen sprang die Lokomotive vor, immer schneller, Stephenson vergebens hinter ihr her. Vom andern Ende der Straße kam jetzt ein Trupp fröhlicher Leute, hatten sich beim Bier verspätet, junge Männer und Frauen, ihr Dorfpfarrer darunter. Denen also rannte das Ungeheuer entgegen, zischte in einer Gestalt vorüber, die noch niemand auf der Erde gesehen hatte, kohlschwarz, funkensprühend, mit übernatürlicher Geschwindigkeit. Noch schlimmer, wie in alten Büchern der Teufel abgebildet wurde; da fehlte nichts, es kam nur etwas hinzu. Denn eine halbe Meile weiter machte die Straße eine Biegung, grade einer Mauer entlang; auf diese führ die Lokomotive los und explodierte mit großer Gewalt. Drei von den Heimkehrern, wird erzählt, fielen am nächsten Tag in ein hitzige Fieber, der Pfarrer wurde irrsinnig Nur Stephenson hatte alles verstanden und baute eine neue Maschine, auf Gleisen und mit Führerstand; so wurde ihre Dämonie auf die rechte Bahn gebracht, ja schließlich fast organisch. Die Lokomotive kocht jetzt wie von Blut, zischt wie außer Atem, ein gezähmtes Überlandtier großen Stils, an dem man den Golem vergißt. Die Indianer sahen bei den Weißen zum erstenmal das Pferd; dazu bemerkt Johannes V. Jenssen: wüßte man, wie sie es sahen, so wüßte man, wie das Pferd aussieht. Und am Irrsinn des Pfarrers sah man, wie einer der größten Umwälzer der Technik aussah, bevor man sich daran gewöhnte und die Dämonie dahinter verlor. Nur der Unfall bringt sie zuweilen noch in Erinnerung: Krach des Zusammenstoßes, Knall der Explosionen, Schreie zerschmetterter Menschen, kurz ein Ensemble, das keinen zivilisierten Fahrplan hat. Der moderne Krieg tat erst recht das Seine; hier wurde Eisen noch dicker als Blut und die Technik gern bereit, sich an das Höllengesicht der ersten Lokomotive zu erinnern. Kein Weg geht zurück, aber die Krisen des Unfalls (der unbeherrschten Dinge) werden ebenso länger bleiben wie sie tiefer liegen als die Krisen der Wirtschaft (der unbeherrschten Waren).

II - stellwerksschaltplan, gate, track, loop

unter einer gesprungenen und verstaubten glasplatte liegt ein signal und schienenplan der gleisanlage erkner auf dem schreibtisch. symbole erläutern eigenschaften und funktionen der einrichtungen: gleis mit oder ohne oberleitung, überhängender winkelmast, einfacher signalmast, signale, weichen, kettenwerk, tragseil und fahrdraht... er offenbart, dass es sich bei der gleisanlage nicht nur um einen leitungskarte der schienen handelt, sondern um einen komplexen schaltplan eines logischen geräts. die gleisanlage ist ein überdimensionierter eletkromechanischer computer, der in logischen abhängigkeiten fahrbahnen berechnet, d.h. zur durchfahrt frei gibt. der zug selber ist eine art signal, dass durch das netz von entscheidungsvalenzen in eine bestimmte richtungen geleitet wird. die horizontale gliederung von automationsspuren, linien mit denen bewegungen von eigenschaften akustischer signale auf der zeitachse in einer digitalen audioworkstation (daw) aufgezeichnet werden, sind nicht nur rein ästhetisch diesem schaltplan ähnlich. ein track ist synonym ein bahngleis und eine tonspur. logicgates, marker sind weichen und signalstellungen für das akustische signal, das wie ein durchfahrender zug im endeffekt auf die eine spur des akustisch hörbar signals reduziert/zusammengefasst wird. die welle, die durch das vor und zurück der luftmassen bewegenden membrane der lautsprecher, erzeugt wird, ist eine gliederung von radialbewegungen, wie der auf die rotierende achse gezwungene lineare bewegungsimpulses des zuges. der takt der über die fuge der modular zusammengefügten gleiselemente stürzenden monoblockräder bilden den klassischen grundwortschatz moderner ryhtmischer musik. keine trope mechanischer radialer repition ist vielleicht metaphorisch grundlegender als dieser impuls der eisenbahnschwellen. der loop des akustischen phänomens der eisenbahn wiederholt sich in der makrostruktur seiner begriffsherkunft aus den verkehrstechnischen einrichtungen entstehender großstädte im 19. jahrhundert. ringbahn und tonbandgerät folgen aufeinander als reflektion der logik einer reziproken arbeits und lebensstruktur.

III konvolution (impuls response) f*g

die aufnahmen für die komposition sind in zwei etappen entstanden: 1. am dienstag morgen am 1.8. 2023 im außenbereich des bahnhofs und zweitens in den innenräumen am 7.8. am nachmittag. mechanische gegenstände und ihre resonanzen, elektromagenetische emissionen der bahneinrichtungen, akustische spuren der menschen und der natur auf dem gelände bildeten den materiellen grundstock der arbeit. zentral für die methode der komposition ist aber das verfahren des faltungs- oder konvolutionshalls gewesen, der es ermöglicht die akustischen halleigenschaften des vorgefundenen raumes mit anderen signalen zu verbinden. die konvolutions- oder faltungsalgebra ist eine komperatistische methode zwei funktionen zu einer dritten zu synthetisieren. anders als die multiplikation, addition usw. ist die faltung eine methode zwei signale nicht nur zu mischen, übereinanderzulegen, sondern quasi miteinander zu verbinden. (der faltungshall bildet eine dritte ebene zwischen den beiden sich gegenüberstehenden zentralen methoden elektronischer musik synthese und sampling.) im akustischen verfahren des faltungshalls wird mittels eines anregungssignals die zeitliche und spektrogrammatische charakteristik eines körpers oder raumes aufgezeichnet. in einem zweiten schritt übernimmt dann ein in das system eingespeistes signal die resonanz eigenschaften des ursprünglichen anregungssignal zu einem bestimmten anteil. metaphorisch geht es dabei um die begegnung der räumlichkeiten des stellwerks mit der intimität archivierter aufnahmen: der öffentliche aussenraum, der außer dienstgestellte werkraum, das topologische tabu der bahnanlage und die privatheit der musikalischen experimentation und archivarischen konfrontation mit der eigenen biographischen historizität der produktion. das arbeiten mit der methode des faltungshall ermöglicht eine art installative arbeit auf der ebene der akustik. in der folge wird die komposition in eine serie akustischer objekte eingegliedert. ein bedeckelter kistensperrholzkasten, innen eine in glas gerahmte zeichnung des konfrontierten ortes und ein digitales abspielgerät, das die komposition wiedergibt und über einen audioanschluss an ein beliebiges verstärkersystem oder kopfhörer angeschlossen werden kann. (*3)

*3 zeichnung und skizze kasten: realisiertes soundobjekt: dead silence of the night (luisenstädtischer kanal), 2020
http://www.grischa-lichtenberger.com/dead%20silence%20of%20the%20night/

Grischa Lichtenberger

Musiker